„Start in die Digitale Zukunft – Digitalisierung und Interaktivität –
so lauten die beiden Schlüsselwörter der medialen Zukunft“ (Bernd Klammer, Sozialforscher)
Was als topaktuelles Zitat daherkommt, stammt aus dem Jahr 1994 und ist somit gerade mal schlappe 26 Jahre alt. Im selben Jahr gibt es die ersten Forschungsberichte beispielsweise vom Max-Planck-Institut zum Thema Teachware und multimedial-computergestütztes Lernen. Auch öffnet sich Mitte der 90er Jahre das Internet als ehemaliges amerikanisches Militärnetz der allgemeinen Öffentlichkeit.
Der angeführte Aufruf zum Start in die - seinerzeits neue - digitale und interaktive Ära führt den Ausspruch der Bundeskanzlerin Angela Merkel 2013 „Das Internet ist Neuland“ ad absurdum. Das Gelächter ist groß. Doch leider zeigt dieser Ausspruch bis heute seine Wirkung.
Noch erstaunlicher wird es, wenn wir gegenwärtig – gut ein Vierteljahrhundert später - in der Broschüre „DigitalPakt Schule“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) lesen, dass der Ausbau flächendeckender digitaler Infrastruktur, die digitale Ausstattung von Klassenzimmern und Schülern, der methodisch-didaktische Einsatz verschiedenster Software-Angebote zur interaktiven Unterrichtsgestaltung und die Vermittlung von Medienkompetenz als Zukunftsmusik bezeichnet wird. Zukunftsmusik, die sich nun mit Hilfe des DigitalPakts, einer Summe von rund 5,5 Milliarden Euro, Schritt für Schritt Realität werden soll.
Die erschreckende Nachricht ist: Der beschriebene Status Quo ist wahr. Der mehrfache Startschuss wurde überhört.
Die gute Nachricht ist jedoch: COVID-19 gibt uns sofort und gleich die Chance, der digitalen Lethargie ein Ende zu setzen, die analoge Komfortzone zu verlassen, aus dem ewigen Diskussionsprozess auszutreten und mit der praktischen Umsetzung anzufangen.
Ja, aber!
Dem ein oder anderen Leser, Lehrer oder Entscheider wird an dieser Stelle ein empörtes „Ja, aber!“ auf der Zunge liegen. Zu Recht. Es gibt viele Stiftungen, Bildungseinrichtungen und Lehrerinitiativen, die sich umfassend und explizit mit dem Bereich der Digitalisierung beschäftigen, als konzeptuelle Wegweiser dienen und Unterstützung anbieten. Und doch sind die erfolgreich beschriebenen Projekte zumeist Strohfeuer engagierter Einzelkämpfer.
Mit den Schulöffnungen nach den Sommerferien ist auch das Team von emooeducation motiviert in die Vorbereitungswochen der Schulen gestartet. Auf unsere interessierten Fragen wie die Lehrer sich durch die plötzliche Aufforderung zur Konzeption und Durchführung des Homeschooling gefühlt und geschlagen haben, bekommen wir Antworten wie „Mehr oder weniger gar nicht“, oder „Das (Corona) geht auch wieder vorbei und dann machen wir weiter wie bisher“. Natürlich darf man diese Äußerungen nicht pauschalisieren – denn „Ja, aber!“ gibt es auch die engagierten Lehrer, die selbst um 22 Uhr abends, die noch per Email eingehenden Fragen der Schüler umgehend beantworten. Resignation und Weigerung, oftmals ein Zeichen von Überforderung, sind jedoch der Spiegel einer richtungsweisenden Haltung.
Leider korrelieren diese Aussagen mit dem Stimmungsbild der Kurzstudie Digitale Schule, zu der Eltern bezüglich ihrer Zufriedenheit der schulischen Betreuung während der Schulschließungen befragt wurden. Und auch wir können uns diesem Eindruck nicht verschließen.
Seit über 10 Jahren ist das Team von emooeducation aktiv und vor Ort in den Schulen des deutschsprachigen Raums unterwegs und versucht, die Etablierung digitaler Unterrichtsgestaltung mit voranzutreiben.
Ein Fazit: Ja, die Kompetenzen wachsen – doch leider nicht schnell und intensiv genug. Noch immer stoßen wir auf mangelndes Interesse und vorherrschende Langmut, dass es sich bei der Digitalisierung lediglich um einen (lästigen) Trend handelt, der von alleine verschwindet, wenn man nur lang genug wartet. Computer, Internet, Smartphones, Tablets, Interaktive Tafeln, Apps, Gamification-Methoden usw. sind jedoch kein Trend, keine Zukunftsmusik – sie sind knallharte Realität. Man muss sie nicht mögen, doch darf man sie nicht leugnen.
COVID-19 mit all seinen strukturellen Einschränkungen steht nur stellvertretend für die unvorhersehbaren Ereignisse, die uns auch künftig in eine ähnliche Schockstarre versetzen können oder aber endlich ins Handeln bringen. Wir haben die Wahl
Digitaler Frust: Stolpersteine oder doch nur Ausreden?
Wie der aktuelle Stand der Dinge zeigt, wehrt sich eine Vielzahl der im Bildungsbereich tätigen Akteure – es sind nicht immer nur die Lehrer - mit Händen und Füßen gegen den Fort-Schritt. Warum ist das so? Wir haben die am häufigsten vorkommenden Gründe herausgepickt und auf den Prüfstand gestellt.
(Fehlender) Datenschutz ist auf der Liste gegen die praktische Umsetzung zahlreicher digitaler Medienkonzepte das führende Argument.
Ja! Der Schutz persönlicher Informationen und Daten ist wichtig, richtig und unabdingbar. Das Recht auf Selbstbestimmung, wer welche Daten über welche Kanäle, aus welchem Grund und zu welchem Zweck verwenden darf, ist unbedingt zu beachten, doch in der realen Welt nicht wirklich steuerbar. Das Kleingedruckte der Nutzungsbedingungen der uns angebotenen Programme, Apps und was immer unseren beruflichen, privaten - und bildungstechnischen – Alltag erleichtert und bereichert, bietet allenthalben keinen ausreichenden Schutz (was uns nebenbei gesagt in der privaten Anwendung zumeist nur peripher interessiert).
Ein Zitat aus der Süddeutschen Zeitung zum Thema Digitales Lernen und Datenschutz verdeutlicht dies: „Google, Amazon, Apple und Facebook können sich in Europa Dinge herausnehmen, für die sie in den USA längst unter staatliches Monitoring gestellt worden wären. In der EU ist oft die irische Datenschutzbehörde DPC zuständig, weil die großen IT-Konzerne dort aus steuerlichen Gründen ihren Sitz haben. Da die DPC jedes effektive Handeln gegen die weltgrößten Datensammler blockiert, hat sie den hübschen Namen „Untätigkeitsbehörde“ erhalten. Zu Recht“ (SZ, 28.07.2020)
Doch kann und darf der bestehende (derzeit nicht zu ändernde) Nicht-Datenschutz tatsächlich als Rechtfertigung für das Bildungssystem dienen, sich der digitalen Welt zu entziehen und, böse ausgedrückt, wieder in die Kreidezeit zurückzukehren? Vor allem jetzt, da uns die aktuellen Gegebenheiten die Notwendigkeit aufzeigen, die Möglichkeiten, die uns die Digitalisierung bietet, zu akzeptieren und anfangen diese zu nutzen? Manchmal ist ein wenig Kreativität gefragt.
Wäre es beispielsweise eine zu diskutierende Möglichkeit, einem jeden Schüler eine, nur dem Lehrer bekannte Nummer oder Buchstabenfolge – eine Art codierten Benutzernamen – zuzuordnen, um so während einer Videokonferenz oder Nutzung einer Cloud die Anonymität der Schülerdaten zu gewährleisten?
Die allumfassenden Lösungen für den Datenschutz werden noch lange auf sich warten lassen, mit Sicherheitslücken werden wir leben müssen - doch sollte es möglich sein, mit Umsicht, Vorsicht und gesundem Menschenverstand an einem Strang zu ziehen und die Bildung gemeinsam zu modernisieren und insbesondere den Kindern neue Zugänge zum Lernen zu erleichtern.
(Fehlende) finanzielle Mittel zur Realisierung vermeintlich fehlender Infrastruktur und Ausstattung waren bislang das zweite beliebte K.O.-Kriterium. Der DigitalPakt nimmt diesem nun den Wind aus den Segeln. Um diese Gelder nun jedoch zu beantragen und sinnstiftend einzusetzen bedarf es durch die Schulen eingereichte Medienkonzepte und vor allem beratender Medienkompetenz.
Doch wer besitzt diese Kompetenzen? Gibt es Qualitätskriterien für die Konzepterstellung und Bewertungsmaßstäbe zu deren Prüfung? Wie sehen die Festlegungen für ein professionelles beständiges Aus- und Weiterbildungsprogramm aus, ohne welches der Erwerb und die Vermittlung von Medienkompetenz schlicht nicht möglich sind? Und noch wichtiger: Ist der Punkt der qualifizierten Lehrerweiterbildung in den vorzulegenden Konzepten enthalten, bzw. sind Aus- und Weiterbildung ebenfalls durch die Mittel des DigitalPakts abgedeckt?
Gerade an der Stelle, an der es um die Formulierung der praktischen Aus- und Weiterbildung geht, bleiben die bestehenden Konzeptentwürfe und Checklisten meist theoretisch.
Die größte Problematik bei einer bundesweit einheitlichen Beantwortung dieser Fragen ist das bei uns existierende föderalistische Schulsystem.
Aufgrund unserer bundesweiten Tätigkeit betrachten wir von emooeducation die Gesamtsituation kritisch. Unterschiedliche Rahmenlehrpläne, ungleiche strukturelle Voraussetzungen und verschieden ausgeprägte Innovationsfreude und –Umsetzung in den einzelnen Bundesländern bergen die Gefahr, den Bildungsstandard und Wissensstand in Deutschland mehr und mehr auseinanderklaffen zu lassen. Der Wissenserwerb und die Bildungschancen unserer Kinder sollten nicht von den oben genannten Faktoren abhängig sein.
In Bezug auf (fehlende) digitale Lehrmaterialien beißt sich die Katze in den Schwanz. Solange der Unterricht vorzugsweise analog funktioniert, bleibt auch das Material vorwiegend analog. Es gibt durchaus Ansätze der Schulbuchverlage digitales Lehrmaterial, beispielsweise zum Einsatz an interaktiven Tafeln bereitzustellen, doch provokant gesprochen, besteht dies zumeist aus beschreibbaren PDFs – durchaus digital, doch entfernt von interaktiv.
Aus unserer Sicht ist jedoch die (fehlende) qualifizierte Aus- und Weiterbildung im Bezug auf Digitalisierung und Medienkompetenz jedoch das größte Hindernis bzw. die größte Herausforderung.
Gleich in welchem Ausmaß, sich eine Schule in den Bereich digitaler Technologien und Anwendungen hinein wagt oder bereits gewagt hat, sind die Reaktion auf die Frage nach Schulungen zum methodisch-didaktischen Einsatz der digitalen Medien zurückhaltend. Fehlende Gelder oder „das klappt auch irgendwie so“ sind die häufigsten Argumente. Resultat ist eine ablehnende Haltung und Überforderung der Lehrer, ein Umgehen der Nutzung der Ausstattung und Verwirrung bzw. Unzufriedenheit beim Schulträger. Die Rück-Schritt-Spirale setzt sich in Gang. Auch wird dieser Tage im allgemeinen Hype oftmals der Begriff der Medienkompetenz auf den Umgang mit Technologie reduziert. Doch umfasst er unter anderem ebenso die sich durch Digitalisierung verändernde Kommunikation, Organisation und auch medienpsychologische Aspekte.
Dabei ist es gar nicht so schwer, nach einer ersten Einweisung oder Schulung, die bislang methodisch-didaktische Unterrichtsgestaltung um interaktive Elemente zu ergänzen und die Vorteile, die die Digitalisierung bietet – und sei es nur simpel, z. B. ein Tafelbild abspeichern, um in der nächsten Stunde vor dem Fortfahren des Stoffes zur Wiederholung auf die Informationen des bereits Erarbeiteten zurück greifen zu können – zu nutzen.
Von Ausbilder zu Ausbilder gesprochen, können wir jedem Lehrer, Rektor und Entscheider nur ans Herz legen, dem Posten der qualifizierten Aus- und Weiterbildung – auch bereits während des Studiums – einen besonderen Stellenwert einzuräumen. Denn auch Sie wissen aus Ihrem täglichen Tun … nur die Praxis bringt Spaß am Lernen und letztendlich das Wissen.
Aus Frust mach Lust
Wir sollte aufhören, ständig nach Ausreden zu suchen und loslegen, denn die Voraussetzungen sind entweder bereits gegeben oder lassen sich mit gutem Willen umsetzen. Mit etwas Achtsamkeit verringern wir die Zahl der Ausreden und starten zum Wohle der Bildung unserer Kinder nun auch endlich in das digitale Zeitalter.
Im nächsten Co(a)uch-Geflüster wird es praktisch. Wir freuen uns auf Sie.
Ihr Team von emooeducation
P.S.: Ihnen brennen Themen auf der Seele, die Ihrer Meinung nach Erwähnung finden sollten? Sie haben Anregungen, Fragen oder auch Kritik? Wir freuen uns auf den Austausch mit Ihnen. Schreiben Sie uns oder rufen Sie uns an.
*Um den Lesefluss nicht zu beeinträchtigen wird innerhalb des Textes zwar nur die männliche Form genannt, stets aber die weibliche und andere Formen gleichermaßen berücksichtigt.
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